Der Wiederaufbau Syriens wird lange dauern und Unsummen verschlingen. Der syrisch-schweizerische Autor Joseph Daher wirft einen Blick auf die Hindernisse, welche dem Wiederaufbau im Weg stehen. Nicht selten haben sie ihren Ursprung in der Natur des Assad-Regimes.
Zehn Tage lang fand Mitte August zum ersten Mal seit 2011 die Damascus International Trade Fair statt, um ausländische Investoren zurück ins Land zu locken und ein Bild der Normalität zu vermitteln. Zahlreiche Unternehmen aus Russland, dem Iran, China, Irak, Indien, Südafrika und dem Libanon nahmen teil, sowie die Vertreter von mehr als 40 Ländern. Trotz der geringen wirtschaftlichen Auswirkungen der Messe, sowie eines Mörserangriffs, der zu mehreren Toten führte und so die fragile Sicherheitslage vor Augen führte, war die Botschaft klar: Assad ist hier um zu bleiben und die Wiederaufbauphase hat begonnen.
Längst konzentriert man sich auf internationaler Ebene nur noch auf den „Krieg gegen den Terror“. Es gibt einen Konsens, dass Assad an der Macht bleiben kann. Und so ist die Handelsmesse auch Ausdruck des wachsenden Selbstbewusstseins des Diktators sowie der herrschenden Klasse in Damaskus.
Nichtsdestotrotz steht das syrische Regime weiterhin vor diverse Herausforderungen, die politischer und wirtschaftlicher Stabilität im Weg stehen und es erschweren, die für den Wiederaufbau benötigten Mittel heranzuschaffen. Einige dieser Herausforderungen liegen in den internen Widersprüchen und der Natur des Regimes als Patrimonialstaat begründet. Als solcher muss er die divergierende Interessen seiner Unterstützer befriedigen – allen voran die der Milizen und der Profiteure seines Nepotismus.
Mangel an Investitionen
Der Wiederaufbau ist ein Hauptprojekt des Regimes und seiner Günstlinge. Sie wollen ihre politische und ökonomische Macht sichern und dabei ihre ausländischen Verbündeten für die Unterstützung der letzten Jahre mit einem Anteil belohnen. Weil dem hochverschuldeten Regime die Mittel zum Wiederaufbau fehlen, wird dieser auch dessen neoliberale Politik weiter verstärken.
Anfang Januar 2017, kurz nach seinem Sieg in Ost-Aleppo, wollte Damaskus das Dekret 66 fürs ganze Land durchsetzen [1]. Das Gesetz war 2012 verabschiedet worden und hatte es dem Regime erlaubt, viele Bewohner von Damaskus ihrer Grundstücke zu enteignen. Dies betraf die Menschen in zwei großen informellen Regionen am südlichen Rand von Damaskus – den Bezirk Mezzeh sowie das große Gebiet zwischen Qadam und Darayya. Als Kompensation gab es für die einstigen Bewohner einen Anteil am geplanten Neubauprojekt in diesen Gebieten. Doch: “Wann immer es diese Enteignungsprojekte in Syrien gab, war die Entschädigung extrem niedrig. Es ist ganz klar eine Enteignung dieser Leute. (…) Dies ist eine steuerfreie Übertragung öffentlicher Vermögenswerten an private Unternehmen – und eine Förderung der Kumpel des Regimes“, so Jihad Yazigi, Redakteur des Syria Report. [2]
Bestrafung oppositioneller Bevölkerungsgruppen
Laut dem Plan sollen 12.000 Wohneinheiten für geschätzte 60.000 Einwohner gebaut werden, Schulen, Restaurants, Kultstätten, ein mehrstöckiger Parkplatz und ein Einkaufszentrum [3]. Beamte in Damaskus begründen dieses Dekret damit, die Qualität des Wohnungsbaus verbessern zu wollen – andere Gebiete im ganzen Land sollen folgen [4].
Ein weiteres Beispiel stellt die Stadt Homs dar, deren Stadtregierung im September 2015 den Plan für den Wiederaufbau des Bezirks Baba Amr genehmigte. Im März 2017 hatte die Verwaltung bereits ihre eigene Holdinggesellschaft für das Immobilienprojekt gegründet [5]. Der Plan für den Wiederaufbau umfasst 465 Grundstücke – vor allem für Wohnhäuser aber auch für Geschäfte, Schulen und Krankenhäuser. Auch in diesem Fall wurde auf die möglichen demographischen Konsequenzen hingewiesen.
Indem das Dekret 66 die Zerstörung und Enteignung großer Flächen ermöglicht, kann das Gesetz ein effizientes Instrument für schnelle und große Entwicklungsprojekte sein, von denen Regime-Kumpel profitieren. Zugleich kann es vom Regime genutzt werden, um oppositionelle Bevölkerungsgruppen zu bestrafen.
Die Entwicklung der Wohnprojekte würde von Holdinggesellschaften getragen werden, die im Besitz der Provinz- und Gemeinderegierungen sind. Der Bau und die Verwaltung hingegen, würden an private Unternehmen im Besitz gut vernetzter Investoren übergeben werden. Die Umsetzung dieses Gesetzes dient einer Reihe von Zielen: Dass Regime setzt so jene Teile der Bevölkerung unter Druck, die außerhalb ihrer Kontrolle leben – ihnen droht man damit, sie in ihrer Abwesenheit zu enteignen. Für die Unternehmer, die loyal gegenüber dem Regime sind, ist es eine Quelle der Bereicherung. Und schließlich ist es ein Anreiz für Investoren, die vom Wiederaufbau in Syrien profitieren wollen [6].
Es profitiert, wer Verbindungen in den Präsidentenpalast hat
Im August 2017 kündete die Aman Group ihre Beteiligung am Wiederaufbau in Basateen al-Razi im Distrikt Mazzeh an. Das Unternehmen ist im Besitz von Samer Foz, ein expandierender Geschäftsmann mit engen Beziehungen zum Regime. Die Aman Group wird dabei Partner der Provinz Damaskus und der privaten Kapitalgesellschaft Damascus Cham. Die eigens für dieses Projekt gegründete Damaszener Filiale der Aman Group kündigte ein Budget von 18,9 Mio US-Dollar für das Projekt an – die Anteile der anderen Partner blieben unbekannt. Vor dem Deal mit der Aman Group war Damascus Cham ein ähnliches Joint-Venture mit Zubaidi und Qalei LLC eigegangen. Die Unternehmen befinden sich im Besitz von Khaled Al-Zubaidi und Nader Qalei, zwei mächtige Damaszener Geschäftsleute mit Verbindungen zum Regime, deren Firma Castle Investment im Jahr 2017 einen langfristiger Vertrag für die Verwaltung des Ebla Hotels erhielt, ein Fünf-Sterne-Resort mit angeschlossenem Konferenzzentrum bei Damaskus [7].
Die Tatsache, dass Samer Foz und Nader Qalei Sunniten sind, zeigt erneut die vielfältigen Strategien und Instrumente des Regimes auf, das seine Basis durch Klientelismus, Tribalismus und Sektierertum zu binden weiß.
Ähnlich wie Homs und die verschiedenen Vororte von Damaskus, könnten auch Aleppo und andere Territorien ähnliche Projekte erleben. In Aleppo wurden nach einer vorläufigen Einschätzung der Stadtverwaltung mehr als 50 Prozent der Gebäude und der Infrastrukturen teilweise oder vollständig zerstört [8]. Währenddessen sind große Teile der Bevölkerung Ost-Aleppos in andere Teile des Landes vertrieben worden oder hatten das Gebiet bereits wegen des Krieges verlassen.
Syrische Banken sind hoch verschuldet
Einige Einwohner Ost-Aleppo sind mittlerweile zurückgekehrt, stellen bislang aber eine Minderheit dar. Schätzungen zufolge sind landesweit in den ersten sechs Monaten dieses Jahres 440.000 Binnenvertriebene in ihre Städte zurückgekehrt. Hinzu kommen laut UNHCR 31.000 Geflüchtete, die aus den Nachbarländern zurückkehrten. Angesichts von mehr als fünf Millionen Flüchtlingen im Aus- und 7,6 Millionen Flüchtlingen im Inland ist das eine sehr kleine Zahl. Die syrische Bevölkerung ist um schätzungsweise 20 Prozent geschrumpft [9].
Derweil reichen die Investitionen der privaten Akteure nicht aus, um das Land wiederaufzubauen. Im April 2017 wurden die Kosten des Wiederaufbaus auf 350 Milliarden US-Dollar geschätzt [10]. Ein Problem für diese Public-Private-Partnership-Systeme stellt ihre Abhängigkeit von der Finanzierung durch Banken dar. Die Bilanzsumme der 14 privaten syrischen Geschäftsbanken belief sich Ende 2016 auf 1,7 Billionen Syrische Pfund – das entspricht nur etwa 3,5 Milliarden US-Dollar. Im Jahr 2010 erreichten diese Banken noch eine Bilanzsumme von 13,8 Milliarden US-Dollar. Die sechs staatseigenen Banken sind größer als ihre privaten Pendants – insbesondere ist hier die syrische Handelsbank zu nennen. Allerdings sind sie hoch verschuldet [11].
Der Wiederaufbau benötigt daher massive ausländische Finanzierung, von der vermutlich jene Ländern profitieren werden, die das Assad-Regime am meisten unterstützten – also insbesondere der Iran und Russland. Im Februar 2017 erklärte der syrische Wirtschaftsminister Adib Mayaleh, dass Unternehmen aus dem Iran und anderen verbündeten Ländern belohnt werden sollen, während europäische und amerikanische Unternehmen sich erstmal für ihre Regierungen entschuldigen müssten [12].
Russische, iranische und chinesische Firmen stehen in den Startlöchern
Nach der Rückeroberung Ost-Aleppos betonte auch der Gouverneur Aleppos, Hossein Diyab, dass der Iran „eine wichtige Rolle beim Wiederaufbau Syriens, insbesondere Aleppos spielen wird.“ Die iranische Wiederaufbaubehörde hat im März 2017 die Renovierung von 55 Schulen in der Provinz Aleppo bekannt gegeben [13]. Der Iran hatte auch die größte Präsenz auf der eingangs erwähnten Handelsmesse in Damaskus: Mehr als 40 iranischen Unternehmen nahmen teil [14].
Schon im Oktober 2015 besuchte eine russische Delegation Damaskus und verkündete, dass russische Unternehmen Syriens Wiederaufbau anführen würden. Damals wurden Abkommen im Wert von mindestens 850 Mio. Euro geschlossen. Berichten zufolge bot der syrische Außenminister Walid Muallem russischen Firmen im November 2016 an, dass man ihnen Vorrang beim Wiederaufbau gewähren wolle [15].
Die chinesische Regierung veranstaltete im August dieses Jahres die „Erste Fachmesse für syrische Wiederaufbauprojekte“, während der eine chinesisch-arabische Unternehmensgruppe eine Investition der Regierung im Umfang von zwei Milliarden US-Dollar ankündigte, die in den Aufbau von Industrieparks gehen sollen [16].
Trotzdem stellt sich angesichts der Zerstörung in Syrien die Frage, ob iranisches, russisches und sogar chinesisches Kapital ausreichen würde. Der derzeitige Unwille der westlichen Staaten oder der Golfmonarchien in Syrien zu investieren, stellt ein Problem dar.
Hinzu kommt, dass die Frage des Wiederaufbaus auch damit verbunden ist, ob das Regime über die Kapazitäten verfügt, um in den vom ihm kontrollierten Gebieten Stabilität herzustellen und so ein Umfeld zu schaffen, in dem Investitionen denkbar sind. Zwei Dinge gefährden dies: Die regimeloyalen Milizen und die erwähnten mit dem Regime verbandelten Kapitalisten.
Die Milizen verbreiten Chaos
Seit einiger Zeit schon äußert die Bevölkerung in den Gebieten unter Kontrolle des Regimes immer öffentlicher und lauter ihren Ärger über die Milizen. Milizionäre waren in kriminelle Aktivitäten wie Raub, Plünderung und Mord verwickelt, lieferten sich Scharmützel untereinander und nutzen ihre Checkpoints für Erpressungen, was zu höheren Preisen und weiterem menschlichen Leid führt.
Die Kritik an diesen Gruppen wird immer vehementer, insbesondere an der syrischen Küste, wo die Bewohner wiederholt ihre Wut äußerten, angesichts des Schweigens der örtlichen Polizei und der Sicherheitskräfte gegenüber den zunehmenden Verbrechen, Entführungen und Plünderungen durch regimeloyale Milizen [17].
Diese Wut hat sich auch in andere Gebiete ausgeweitet. Im September 2016 äußerte die örtliche Bevölkerung im vom Regime kontrollierten West-Aleppo ihre Frustrationen, nachdem es im Rahmen einer Evakuierung zu Plünderungen durch regimetreue Shabiha-Milizen gekommen war. Millizionäre plünderten auch hunderte von Fabriken im Industriegebiet Ramouseh. Fares Al-Shehabi, Parlamentsabgeordneter und Vorsitzender der Aleppiner Industriekammer, beschwerte sich über den Vorfall sogar auf seiner Facebookseite. Der regimeloyale Imam der al-Abara-Moschee erwähnte die Angelegenheit in einer Freitagspredigt und erklärte, dass der Handel mit gestohlenen Produkten laut islamischem Recht verboten sei. Ein Kommandeur der Schabiha-Milizen, Ibrahim Ismael, antwortete, dass er das Diebesgut als „Kriegsbeute“ für jene betrachte, die Aleppo verteidigten [18].
Anhänger des Assad-Regimes demonstrieren gegen die Korruption der Milizen an den Checkpoints, Juli 2017
Mord, Entführung und Erpressung
Als Reaktion auf den wachsenden Unmut gegenüber den hohen Schmiergelder an Checkpoints, versuchte das Regime diese Praxis im Mai 2017 einzudämmen. Geschäftsleute in Aleppo hatten diese „Gebühren“ zunehmend kritisiert, Lkw-Fahrer blockierten aus Protest bei Sweida zwei Stunden lang die Autobahn nach Damaskus.
Mitte Mai erteilte Zeid Ali Saleh, der Leiter Komitees für Militär und Sicherheit in Aleppo, endlich den Auftrag, die Praxis der „Gebühren“ auf Warentransporte zu verbieten [19]. Einige Tage später forderte die Damaszener Industriekammer ein ähnliches Verbot auch für die Hauptstadt [20]. Auch Ministerpräsident Imad Khamis erklärte zu dieser Zeit, dass er solche Praktiken verbieten wolle – doch es gibt andauernden Widerstand seitens der Milizen.
Nachdem sogar regimetreue Medien über einige der Verbrechen der Milizen berichteten [21], begann man Mitte Juni 2017 gegen sie vorzugehen. Der Präsidentenpalast sandte Mohammed Dib Zeitoun, den Chef der Staatssicherheit, nach Aleppo, um dem gesetzlosen Treiben ein Ende zu setzen. Die Staatssicherheit und der Luftwaffengeheimdienst begannen die entsprechenden Gruppen in den Vierteln Adhamiya, Akramiya und Seif Al-Dawla aufzumischen. Darüber hinaus verschärfte der örtliche Leiter der Baath-Partei, Fadel al-Najjar, die Vorschriften für die Baath-Bataillone [paramilitärischer Arm der regierenden Partei, Anm. d. Red.] [22].
Milizen sind eng mit Beamten und Sicherheitsdiensten verwoben
Allerdings bleibt es eine große Herausforderungen, die Macht der Milizen auf nationaler Ebene einzudämmen. Laut dem Geschäftsmann Fares al-Shehabi, war die zweimalige Intervention von Bashar al-Assad notwendig, damit hochrangige Sicherheitsbeamte die entsprechenden Befehle erteilten [23]. Das Problem ist nämlich, dass die Milizen in der Regel eng mit Sicherheitsdiensten oder wichtigen Beamten verbandelt sind. Entsprechend können Stadtverwaltungen nicht gegen die Milizen vorgehen, solange sie keine Unterstützung von höchster Ebene erhalten.
Am 6. Juli 2017 fand eine große Demonstration von Industriellen und Unternehmern im Industriegebiet Sheikh Najjar statt – die Demonstranten verurteilten die Praktiken der Milizen und beschuldigten sie, Zivilisten zu töten und mutwillig die Wiederherstellung der Wasser- und Stromversorgung zu unterbrechen. Die Demonstranten verurteilten auch die Erpressungen an den militärischen Checkpoints [24]. Derweil kam es zwischen den Städten Nubl und Zahra zu einer weiteren Protestaktion der Lkw-Fahrer gegen die Gewalt der Milizionäre und für die Beseitigung der Checkpoints.
Aleppo war ein erster Test für das Assad-Regime, seine Fähigkeit unter Beweis zu stellen, „Stabilität“ für die Bevölkerung zu garantieren und der internationalen Gemeinschaft zu zeigen, dass es fähig ist, sein Territorium zu kontrollieren. Nur so werden ausländische Investitionen für den Wiederaufbau wahrscheinlicher.
Aus Niemanden wurden Männer mit Macht und Einfluss
All das ist aber nur der erster Schritt auf dem langen Weg zur Disziplinierung der Milizen im Land – darunter auch die National Defense Forces sowie die zahlreichen vom Iran kontrollierten paramilitärischen Gruppen. Ein Problem, das bereits 2013 von einem syrischen Beamten vorhergesehen worden war, der damals sagte: „Nach dieser Krise wird es noch 1.000 weitere Krisen geben: Die Führer der Milizen. Vor zwei Jahren wurde aus diesen Niemanden Männer mit Waffen und Macht. Wie können wir diesen Shabiha sagen, dass sie wieder Niemande werden sollen?“ [25]
Im Sommer 2017 verbreiteten die gesetzlosen und gewalttätigen regimetreuen Milizen weiterhin Chaos und sorgten so für Unsicherheit in diversen vom Regime kontrollierten Gebieten [26]. Ende August verweigerten Kämpfer der Miliz Nusur Homs etwa eine Inspektion und eröffneten stattdessen das Feuer auf die Polizeipatrouille und schlugen einen der Beamten brutal zusammen [27]. Auch nimmt die Zahl der viel kritisierten Checkpoints im ganzen Land nicht etwa ab – stattdessen tauchen sogar neue auf, was zu einer weiteren Kostensteigerung für Produzenten wie Konsumenten führt.
Und letztlich sind dies nur einige der Sicherheitsprobleme, gegen die vorzugehen es dem Regime an Kapazitäten mangelt. Dschihadistische Gruppen wie Hai’at Tahrir al-Sham(HTS) oder der „Islamische Staat“ werden zunehmend ihre Strategie verändern, hin zu Selbstmordattentaten in zivilen Gebieten, die für weitere Instabilität sorgen werden.
Die Kumpel des Regimes kriegen nie genug
Die Milizen sind sicherlich eine der größten Herausforderungen für das Regime, doch sie sind freilich nicht die einzige. Die Kumpelkapitalisten (crony capitalists), die Günstlinge des Nepotismus des Regimes, konnten dank des Krieges ihre politische und ökonomische Macht weiter ausbauen – doch behindern sie so auch in gewissem Maße die Investitionen ins Land und damit den Wiederaufbau. Damaskus versucht nun die Investoren und Geschäftsleute, die das Land wegen des Krieges verlassen hatten, dazu zu bringen zurückzukehren. Es braucht nicht nur ihr Geld – die Rückkehr der Industriellen bedeutet auch weniger Abhängigkeit von Importen. Dies ist wichtig für das Regime, weil ausländische Währungen rar geworden sind.
Zur Erinnerung: Seit dem Beginn des Aufstandes im März 2011 gingen unzählige Arbeitsplätze verloren. Zwischen 2010 und 2015 verschwanden 2,1 Millionen Jobs. Die Arbeitslosigkeit stieg 2016 auf 60 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit stieg zwischen 2013 und 2015 von 69 auf 78 Prozent [28]. 83 Prozent der Bevölkerung sind nun von Armut betroffen, 2,1 Millionen Häuser wurden zerstört [29]. Diese Arbeitslosigkeit und die zugleich steigenden Lebenshaltungskosten führen dazu, dass sich junge Menschen der Armee oder den Milizen anschließen. Zudem verdient ein Milizionär bis zu viermal so viel, wie ein Universitätsdozent [30].
Das Regime versucht Industrielle im Ausland zurückzulocken
Im Februar 2017 besuchte Finanzminister Maamoun Hamdan Kairo und traf sich mit der „Syrischen Unternehmergruppe – Ägypten“ (Tajammu ‚Rijal Al-A’mal As-Suri Bi-Masr) [31]. Viele von ihnen sind Industrielle. Hamdan bot ihnen Anreize wie eine Senkung der Zölle, eine Befreiung von allen Abgaben auf Maschinen und von der Umsatzsteuer – hinzu kam das Angebot einer Umschuldung aller Verbindlichkeiten bei staatlichen Banken zu attraktiven Konditionen, ermöglicht durch ein 2015 verabschiedetes Gesetz [32].
Hamdan gab auch bekannt, dass die Regierung Mittel zur Verfügung stellen wolle, um ein Kraftwerk für das Aleppiner Industriegebiet Sheikh Najjar zu errichten und die Arbeiten am Flughafen Aleppo abzuschließen. Die Unternehmer antworteten mit einer Liste weiterer Anträge, einschließlich einer Gnadenfrist von zwei Jahren für ihre Schulden. Auch stellten sie Forderungen in Bezug auf Zölle und Vorschriften. Eine Woche später besuchte eine Delegation von syrischen Investoren in Ägypten Damaskus, um sich mit verschiedenen Regierungsbeamten zu treffen [33].
Die mächtigen Kumpelkapitalisten zögerten nicht, diese Regierungsmaßnahmen zu kritisieren. Eine Woche nach dem Besuch des Ministers in Kairo veröffentlichte die Zeitung al-Watan, die im Besitz von Rami Makhlouf ist [einer der einflussreichsten syrischen Geschäftsmänner, Cousin von Bashar al-Assad und Symbol der Korruption im Land, Anm. d. Red.], einen Kommentar („Die ägyptischen Industriellen“, 26. Februar 2017), der die Anreize für die Geschäftsmänner ebenso verurteilte, wie deren Statement „nur nach der Befreiung von Aleppo“ [34] zurückkehren zu wollen. Laut dem Magazin Syria Report sollte der Artikel jene Regierungsbeamten unter Druck setzen, die die nach Ägypten geflohenen Industriellen zurückholen wollen. „Es wird erwähnt, dass diese erst alle ihre Abgaben zurückzahlen sollten, also Schulden- und Steuerrückstände. Dies ist als Drohung gegen die Investoren im Falle ihrer Rückkehr zu verstehen.“ [35]
Bislang keine Anzeichen für nennenswerte Rückkehr von Industriellen
Syrische Investoren, die Syrien wegen des Krieges verließen, haben die unterschiedlichsten Hintergründe. Die meisten hatten jedoch nur weniger starke Verbindungen zum Regime. Diejenigen, die sich zum Beispiel in Ägypten befinden, sind meist Industrielle im Textilsektor; viele von ihnen kamen aus Aleppo, haben also einen urbanen sunnitischen Hintergrund. Ihr Wohlstand resultiert kaum aus ihren Kontakten zum Regime – ihre Beziehung mit staatlichen Institutionen hat vor allem mit ihren Investitionen zu tun [36]. In einem Bericht von 2016 stellte das Syrian Center for Policy Research fest, dass bis zu 90 Prozent der Industrieunternehmen in den Konfliktgebieten wie Aleppo geschlossen sind, während die übrigen mit nur 30 Prozent Kapazität betrieben werden [37]. Die Industriellen hatten also keine Wahl, als zu gehen.
Bislang gibt es keine Anzeichen für eine nennenswerte Rückkehr syrischer Industrieller in ihre Heimat – stattdessen hat das ägyptische Regime im März 2017 angekündigt, dass es eine integrierte Industriezone und andere Einrichtungen für syrische Industrielle in Ägypten plant [38]. Viele Faktoren spielen also für den Unwillen zurückzukehren eine Rolle. Das Gebaren der syrischen Kumpel-Kapitalisten war jedoch sicherlich kontraproduktiv.
Entsprechend kompliziert verhält es sich mit der jüngsten Ankündigung von Außenminister Walid Muallem, eine „aktive Wirtschaftsdiplomatie“ verfolgen zu wollen, „die das Fundament für einen Wiederaufbau im nationalen Interesse“ darstellen soll. Muallem betonte auch „die Bedeutung der Beiträge der Ausgewanderten für den Wiederaufbauprozess“. Zu erreichen sei dies, indem man die „Kommunikation und die konstruktive Interaktion“ mit den syrischen Gemeinden im Ausland verbessere. Doch dies ist unmöglich, ohne Zusammenarbeit mit den Kumpelkapitalisten und den Beamten des Regimes.
Fazit
Der Ökonom Osama Qadi argumentiert, dass es 20 Jahre dauern könne, bis Syrien sich erholt hat. Vorausgesetzt, dass die syrische Wirtschaft ab 2018 mit 4,5 Prozent wächst [39]. Angesichts der widrigen Bedingungen scheint das eine sehr optimistische Schätzung zu sein.
Das mögliche Ende des Krieges in naher Zukunft bedeutet nicht das Ende der Probleme für das Regime – ganz im Gegenteil. Damaskus wird sich mit einer Reihe von Widersprüchen und Herausforderungen beschäftigen müssen: auf der einen Seite muss es die Interessen der Kumpelkapitalisten und Milizen befriedigen, andererseits gilt es Kapital durch wirtschaftliche und politische Stabilität zu akkumulieren, während es seinen ausländischen Verbündeten die größten Anteile am Wiederaufbaugeschäft gewähren muss. Diese Ziele passen gegenwärtig nur selten zusammen.
Die Widerstandsfähigkeit des Regimes in seinem Krieg gegen jede Art von Dissens ist zu einem sehr hohen Preis gekommen, vor allem in Bezug auf menschliches Leben und die Zerstörung des Landes. Doch die Kosten sind auch politisch. Neben der wachsenden Abhängigkeit von ausländischen Staaten und Akteuren wurden einige Merkmale des Patrimonialregimes weiter gestärkt, während die Autorität der Regierung geschrumpft ist. Die Kumpelkapitalisten und die Milizen haben ihre Macht derweil beträchtlich erhöht, während sich der Klientelismus, Konfessionalismus und Tribalismus des Regimes ebenfalls verstärkt haben. Dementsprechend sind die Ursachen des Aufstands von 2011 – die Abwesenheit von Demokratie und sozialer Gerechtigkeit – nicht nur weiterhin präsent, sondern haben sich sogar verstärkt.
Das Fehlen einer inklusiven und organisierten politischen Opposition, die alle Klassen anspricht, sowie der Abwesenheit sozialer Akteure wie etwa unabhängiger Gewerkschaften oder Bauernvereinigungen, die von den internen Widersprüchen des Regimes profitieren könnten, gestaltet die Transformation der vielen verschiedener Kämpfe in einen organisierte politischen Kampf auf nationaler Ebene sehr schwierig.